Seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1912 wurde das Schweizer Erbrecht nur geringfügig verändert. Wohl aber haben Familie und Gesellschaft einen deutlichen Wandel durchgemacht: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist gestiegen und die Anzahl Scheidungen hat zugenommen. Zudem hat die Ehe ihre Monopolstellung in der Partnerschaft verloren. Zweit- und Drittbeziehungen sind häufiger. Die familiären Lebensformen vielfältiger, man denke etwa an Patchwork-Familien oder Konkubinatspaare mit Kindern.
In seiner Botschaft zur Gesetzesrevision hielt der Bundesrat daher fest, dass das Erbrecht mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten müsse. Menschen, die nicht in einer Ehe oder einer eingetragenen Partnerschaft leben, werden somit besser gestellt werden. Faktische LebenspartnerInnen können mit der Revision künftig besser berücksichtigt werden. Das Konkubinat ist aber weiterhin nicht im Erbrecht verankert.
Pflichtteil für Kinder wird gesenkt
Am 1. Januar 2023 tritt das revidierte Erbrecht in Kraft. Weiterhin gilt: Wer Erblasser ist, muss einen gewissen Kreis der Familie begünstigen. Pflichtteile schreiben vor, wieviel davon mindestens der Gattin, dem Gatten oder den Kindern zufallen muss. Bei diesen Pflichtteilen kommt es aber zu Änderungen. Nach geltendem Recht stehen den Kindern drei Viertel des gesetzlichen Erbanteils als Pflichtteil zu. Künftig wird es nur noch die Hälfte sein. Neu wird der Pflichtteil für die Eltern von kinderlosen ErblasserInnen abgeschafft. So wird es möglich, diesen Anteil der Partnerin oder dem Partner zu hinterlassen. Der Pflichtteil des Ehepartners und des eingetragenen Partners bleibt unverändert bei 50 Prozent – es sei denn, es läuft bereits ein Scheidungsverfahren.
Mit der Revision hat der Erblasser mehr Handlungsspielraum, da gesetzliche Pflichtteile reduziert werden. «Wichtig ist, dass man sich bewusst ist, dass man über einen grösseren Teil seines Vermögens frei verfügen kann», sagt Christian Häfeli, Jurist und Experte für Nachlassfragen bei der Cadris Treuhand AG gegenüber Telebasel. So könne man einen grösseren Anteil den Ehe- oder KonkubinatspartnerInnen zukommen, um diese besser abzusichern. Es könnten aber auch Drittpersonen in Genuss von mehr Anteilen kommen. So ist es künftig auch möglich, Stiefkinder aus einer Patchwork-Familie sowie Freunde und Nachbarn in einem grösseren Rahmen zu begünstigen, wie Christian Häfeli erklärt.
Jurist rät, alte Erbverträge anzupassen
Was aber, wenn das Testament oder der Erbvertrag nach bisher geltendem Recht geschrieben wurde? «Im Grundsatz bleiben letztwillige Verfügungen, also Erbverträge und Testamente, gültig. Es kann aber durchaus sein, dass im Einzelfall eine Bestimmung drin ist, die widersprüchlich ist», sagt Christian Häfeli. So etwa, wenn drinsteht, dass der Pflichtteil zu drei Vierteln den Kindern zukommen sollte. «Entsprechend muss man die Verträge prüfen, ob es Widersprüche drin hat und das unbedingt anpassen», rät der Jurist.
Für Familienunternehmen werde das neue Erbrecht ein Vorteil sein, sagt Christian Häfeli. Schliesslich gelte dort nicht automatisch das Konstrukt von Ehegatten und Kindern, sondern es seien oft auch noch andere Personen und Bedürfnisse der Firma im Spiel. «Dort ist es sehr wichtig, dass der Unternehmer und die Unternehmerin möglichst frei über den Nachlass verfügen können und das wird in Zukunft zu einem grösseren Teil möglich sein», sagt Häfeli.
Auch mit der Gesetzesrevision werde es nicht möglich sein, einzelne Kinder zu enterben. Lediglich der Pflichtanteil bei den Nachkommen schrumpft, was Konsequenzen haben dürfte, wenn sich Eltern und Kinder nicht vertragen. Für eine Enterbung müsse weiterhin eine schwerwiegende Straftat gegen die Eltern wie etwa eine versuchte Tötung vorliegen.