Keine Transparente, kein Festzelt, keine Demo-Parolen: Am Tag der Arbeit dürften die Strassen ziemlich leer sein. Die Reden werden nicht auf dem Marktplatz, sondern online zu hören sein. Und kämpferische Kehlen werden die «Internationale» vom Fenster oder Balkon aus erklingen lassen. Der internationale Feiertag der Arbeiterbewegung wurde in der Schweiz erstmals 1890 zelebriert. Nun findet er zum ersten Mal in seiner Geschichte ohne Umzüge statt.
Aber auch in Zeiten von Corona wollen sich die Gewerkschaften bemerkbar machen. «Es ist geplant, dass um zehn Uhr, wenn eigentlich Besammlung wäre, etwas Rotes aus dem Fenster hängen und damit Solidarität gezeigt wird mit denjenigen, die systemrelevante Arbeit leisten», so Benjamin Plüss, Vorstandsmitglied des Basler Gewerkschaftsbundes.
«Corona kann helfen, den Blick zu schärfen»
Besonders die systemrelevanten Berufe befänden sich oft im Tieflohnsektor. Daher fordere man auch in der Corona-Krise faire Löhne. Auch ein anderes Thema dürften die Gewerkschaften nicht auslassen. «Während Menschen in Kurzarbeit geschickt werden und zwanzig Prozent weniger Lohn haben, gibt es Unternehmen, die noch Dividenden an Aktionäre ausschütten», kritisiert Benjamin Plüss.
Auch der Soziologe Ueli Mäder ist der Ansicht, dass mit der Corona-Pandemie manche Themen des 1. Mai umso brisanter seien. «Es gibt so viele Leute, die leisten ganz viel, verdienen wenig, werden weniger wahrgenommen und wertgeschätzt», sagt der emeritierte Professor der Uni Basel. «Da kann Corona helfen, den Blick zu schärfen, wie wichtig all diese Arbeitsleistungen sind.» Die Corona-Krise treffe zwar alle. Aber diejenigen, die ohnehin schon geprellt sind, mit tiefen Löhnen und kleinen Wohnungen, spürten diese Krise besonders.
Sind 1. Mai-Umzüge Polit-Folklore?
Haben aber nicht so manche 1. Mai-Umzüge von der Form her nicht oft etwas von nostalgisch angehauchter Polit-Folklore? Ueli Mäder hat hier eine differenzierte Ansicht: «Es gab eine Zeit, da driftete es mehr in die Folklore ab – es ist aber wieder lebendiger und multikultureller geworden», sagt der Soziologe. «Die Arbeit ist so etwas Wichtiges, dass man den 1. Mai noch mehr kultivieren und lebendiger machen müsste.» Der Tag der Arbeit ermögliche es zudem, soziale Bewegungen überhaupt wahrzunehmen.